Mörderische "Selbstverteidigung"

Veröffentlicht auf von Radio Sonnenschein

Die Indios bekommen ihre alten Rechte wieder zurück, Bolivien den Bolivianern – für diese Politik ist Boliviens Präsident Evo Morales in dieser Woche mit großer Mehrheit wieder ins Amt gewählt worden. Doch sie hat auch ihre Schattenseiten. So wurde im Frühjahr die bolivianische Verfassung geändert. Auf lokaler Ebene gelten jetzt nicht nur die demokratischen Gesetze sondern auch die jahrhundertealte indigene Rechtssprechung. Mit dramatischen Auswüchsen: Diebe und sonstige Kriminelle werden jetzt vielerorts in Bolivien kurzerhand gelyncht. Die Polizei muss Verbrecher vor dem brutalen Mob verteidigen. Wir  dokumentieren auch den Fall eines unschuldigen epileptischen Jungen, der als vermeintlicher Einbrecher grausam getötet wurde.

Auseinandersetzung mit der PolizeiEin kleiner Vorort von El Alto oberhalb von La Paz, es ist 22 Uhr. Aufgebrachte Dorfbewohner vertreiben eine Hundertschaft der bolivianischen Polizei aus ihrem Viertel. Kurz zuvor hatte die Menschenmenge versucht, zwei angebliche Diebe zu lynchen. Die Polizisten konnten die beiden mutmaßlichen Verbrecher in letzter Sekunde retten, schwer verletzt sind sie bereits auf dem Weg in ein Hospital. Als wir ankommen, findet die Aggression der Dorfbewohnern ein neues Opfer: die Polizei... Steine prasseln auf die Polizisten herab, sie rennen um ihr Leben. „Für uns Polizisten ist es extrem gefährlich, wir nehmen ihnen ihre Opfer, und sie hassen uns dafür, sagt Alberto Lopez von der Polizei El Alto.“ Wenn sie einen von uns erwischen, halten sie ihn fest - und töten ihn.“

Aufgebrachte MenschenDie bolivianische Polizei ist völlig überfordert: seit einiger Zeit muss sie nicht nur Verbrechen bekämpfen, sondern verstärkt auch die Verbrecher vor dem Volk schützen. Ein angeblicher Kinderschänder wird zum Verhör geführt, er kann vor Schmerzen kaum laufen; stundenlang wurde er von Passanten schwer gefoltert. Befürworter der mittelalterlichen Lynchjustiz berufen sich auf die neue Verfassung Boliviens vom Februar dieses Jahres. Sie führt eine lokale, indigene Gesetzgebung ein, parallel zu der des Staates. Größere Macht für die kleinen Dorfgemeinschaften: sie dürfen jetzt mehr Geld verwalten, Investitionen tätigen und Recht sprechen. „Was wir hier sehen, ist eine totale Fehlinterpretation der neuen Gesetze“, meint Ramío Cossio Sanchez, Polizeidirektor von El Alto. „Kommunale Rechtsprechung bedeutet weder die Lizenz zu töten noch die Freiheit, Menschenrechte zu verletzen. Und sie bedeutet nicht einmal, dass die Leute das Gesetz in die eigene Hand nehmen.“ Für die misshandelten Opfer des rachesüchtigen Pöbels kommt diese Interpretation reichlich spät. Lynchjustiz – in Bolivien beileibe keine Ausnahme. Wir haben in den Archiven gestöbert und Dutzende von erschreckenden Beispielen gefunden. Verbrecher, vor laufender Kamera von Indios zu Krüppeln geschlagen, zu Tode geprügelt, stranguliert oder angezündet.

Familie Mamani Besuch bei Familie Mamani in El Alto, grausige Überreste einer weiteren Lynchaktion, Kleidungsstücke des verstorbenen Sohnes. Es riecht im Raum sofort nach Verbranntem: nach Baumwolle und Menschenfleisch. Mit diesem Tuch – sagt die Cousine - haben sie Omar die Augen verbunden, damit er nicht sah, wie sie ihn geschlagen und angezündet haben. „Als ich ihn um 11 Uhr nachts im Krankenhaus besucht habe, war er nicht mehr bei Bewusstsein, wegen seinen schweren Verbrennungen wurde er mit Sauerstoff versorgt“, erzählt Maria Mamani, die Mutter des Lynchopfers. „Ich habe ihn angesprochen: ‚Mein Sohn, Omar! Was haben sie mit dir gemacht?’ Er hat die Augen nicht mehr aufgemacht, aber er hat begonnen zu weinen. Nur sein Herz hat uns noch gehört.“ Verbrannt! Die Titelseite der lokalen Zeitung. Omar, der 23-jährige Sohn, war unschuldig. Als der Epileptiker auf der Straße einen Anfall bekam, und an der nächsten Türe um Hilfe bettelte, schrie eine Nachbarin das fatale Wort: „Dieb!“ Umgehend begannen die Dorfbewohner in den staubigen Strassen von El Alto den Unschuldigen zu foltern, der sich, von Krämpfen geschüttelt, nicht verteidigen konnte. Und dann wurde Omar verbrannt, bei lebendigem Leibe.

Puppe zur AbschreckungSelbstjustiz: eine uralte, unausrottbare Tradition in den Anden. Doch seit dem Inkrafttreten der kommunalen Rechtsprechung im Februar fühlen sich die indigenen Bevölkerungsgruppen der Aymara und Quetschua bestärkt in ihrer Blutrünstigkeit. Seit einer Woche hängen sie jetzt hier, diese Puppen – sagt die Süßigkeiten-Verkäuferin, sie sind ein Symbol dafür, dass wir es ernst meinen. „Wir haben das Gesetz in unsere eigenen Hände genommen, deshalb haben wir diese Puppen dort aufgehängt. Seitdem sind unsere Strassen wieder sicherer geworden als sie früher waren. Wenn wir einen Verbrecher finden, dann töten wir ihn. Wir sind gut organisiert, wenn ein Verbrecher auftaucht, hat jeder von uns eine Trillerpfeife dabei...“ Nur ein paar Hundert Meter weiter: wieder hängt man eine Muñeca auf, eine Puppe der Abschreckung. „Vorsicht! – steht auf dem rostigen Blech – Dies ist das Schicksal des Verbrechers!“ Nachbarschaftshilfe der blutigen Art; eine groteske Fehlinterpretation der eigentlich sinnvollen Bestrebung des Staates, die Rechte der Indios zu stärken. „Wir zeigen damit, dass jeder, der in dieser Strasse eine Straftat begehen will, von uns gelyncht wird.“ Es bedeutet: „Du wirst so enden wie diese Puppe“. Gerechte Selbstverteidigung oder mörderische Anmaßung? Sind die Grenzen kommunaler Macht beliebig geworden in Bolivien? Wo immer wir diesen Fragen nachgehen, werden wir angefeindet.

Familie MamaniFamilie Mamani auf dem Wege zum Grab ihres Sohnes Omar. Zeit seines Lebens war er schwach gewesen wegen seiner Epilepsie, seine Mutter hatte Tag für Tag Gott angefleht, ihn zu beschützen. Mit seiner Krankheit hatte Omar gelernt zu leben, doch gegen seine Nachbarn hatte er keine Chance. Er starb - drei Tage nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung... „Ich verdamme unseren Präsidenten Evo Morales. Wegen seiner kommunalen Rechtsprechung musste mein Sohn sterben“, so Maria Mamani, Mutter von Omar. „Deswegen haben die Leute meinen Sohn verbrannt.“. Die Regierung des Evo Morales, letzten Sonntag wiedergewählt, will die Rechte der Indios stärken; nach 500 Jahren der Unterdrückung und Ausbeutung eine Notwendigkeit. Doch nun muss Evo Morales aufpassen, dass dieses Ziel vom Pöbel nicht pervertiert wird. Vielleicht ist es dafür sogar schon zu spät...

(Quelle: swr/nationalflaggen.de/werg)

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