Seenomaden

Veröffentlicht auf von Radio Sonnenschein

Tauchen in Phuket: das ist wie ein Blick ins Paradies – sagen die Reiseprospekte. Was Chai Walee vor der Brille hat, ist trübe Brühe voller Abwässer. Chai und sein Sohn Born tauchen nach Felsen-Austern. Die kleben hart am vibrierenden Beton. Ihr Arbeitsplatz ist unter der Brücke von Sarasin, die das thailändische Festland mit der Insel Phuket verbindet. „Chao Le“, nennen sie sich, „Seezigeuner“, und sie ernähren sich seit jeher von dem, was das nasse Element hergibt.

Insel PhuketNach zwei Stunden sind Muschelgründe und Männer erschöpft. Sie lassen die Brücke hinter sich und fahren heim - in ein wenig geliebtes Zuhause. In kolonialen Zeiten durchzogen ihre Vorfahren die ganze Andamanensee. Heute sitzt ein Teil der Meeresnomaden auf der Insel Phuket fest, die früher nur provisorische Bleibe in der Monsunzeit war. Die Regierung hat sie gezwungen, hier ständig sesshaft zu werden, und als ordentliche Staatsbürger haben sie statt Wolken jetzt Wellblech über dem Kopf – Chai sogar nagelneues. Seine Frau Chuanchai verarbeitet mit ihm die Ausbeute des Tages.

„Wir sind heute viele Leute mit vielen Kindern“, sagt Familienvater Chai. „In einem Dorf mit festen Häusern leben wir natürlich besser als vorher, unter weniger ärmlichen Verhältnissen. Trotzdem mögen wir nicht ständig an Land bleiben. Viele von uns haben immer noch Sehnsucht nach dem Meer.“

Einem Meer, das nicht nur gibt, sondern auch nimmt: der Tsunami hat auch hier Spuren hinterlassen. Seither sind Fluchtrouten ausgeschildert.

Zweimal im Jahr, vor und nach der großen Regenzeit, fällen Chai und seine Leute Bananenbäume. Aus dem Holz wollen sie ein Boot zimmern, das die launischen Seegeister versöhnlich stimmt.

loi-ruea-chao-le-festivalDer Bootsbau ist Mittelpunkt des „Loy Rüa“, des „Fests der schwimmenden Boote“. Aus drei Bananenstämmen entsteht die Grundkonstruktion für ein sogenanntes „Prahu“, das später mit Opfergaben für die Seegeister beladen werden soll. Querstreben bringen den Rumpf in die nötige Form. Fingerdicke Zweige dienen als Seitenkonstruktion. Sie saugen sich beim Trocknen fest.
Die Zweige halten die Bordwände, ein Geflecht aus Bananenrinde.

Auch das hat mit dem Fest zu tun: Chai muss Federn lassen. Alle Dorfbewohner schneiden sich ein paar Haare und Nägel ab, an denen das Böse aus dem Körper herausgewachsen ist. Damit soll symbolisch jedes Unglück von der Familie genommen werden. Dann pilgern alle zum „Prahu“, das mittlerweile fertig geschmückt ist. Jeder legt eine kleine Opfergabe ins Boot - und die Unglücksnägel bzw. -haare.

„Das sind sozusagen all unsere großen Sünden“, sagt Chai, „Wenn das Boot sie mit sich hinaus trägt, sind wir praktisch wieder unbefleckt...“

PrahuZeremonie am Dorfschrein: Speise-Opfer für die Schutzgeister. Alle Gaben passieren die prüfende Nase des Schamanen. Mit dem Entzünden der Kerzen auf dem Boot beginnt der wichtigste Teil. Der Schamane, inzwischen barhäuptig, beschwört die Geister des Meeres.
Noch ein Puffreis-Regen, mit dem auch die kleinen Sünden auf dem Prahu landen,
dann wird es zum Strande getragen. Das Sündenschiff der Seezigeuner wird nicht direkt zu Wasser gelassen, sondern auf ein Fischerboot gehievt, das es sicher hinaus aufs Meer schafft. Erst als das Boot nicht mehr zurück ans Ufer treiben kann, wird es mit seiner kunterbunten Fracht aus Bußopfern und Hoffnungen zu Wasser gelassen. Irgendwann wird es untergehen, und mit ihm wird alles denkbare Unheil im Meer verklappt. Auf die nächtliche Feier folgt ein verkaterter Morgen. Und die gemeinsame Stärkung für einen historischen Aufbruch – oder wenigstens die Illusion davon.

„Wir alle stammen von einer indonesischen Prinzessin ab“, erläutert Chai, „die ihrer Schwester den Mann ausspannte - und dafür aus dem Paradies verstoßen wurde. Seither ziehen wir als ihre Nachkommen über das Meer. Es ist der Inhalt unseres Lebens geworden. Wir brauchen das Wasser unter dem Kiel wie die Luft, die wir atmen.“

Früher zogen die Seenomaden nach jedem Loy-Rüa-Fest hinaus aufs Meer, um dort bis zur nächsten Regenzeit zu bleiben. Diesmal werden es wohl nur ein paar Tage sein, dass sie die Brücke von Sarasin hinter sich lassen – für eine Stippvisite im verlorenen Paradies.

(Quelle: rogerwaters-buecher/spectrumasia.com/ard/werg)

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