Stevia - Traum und Hoffnung...
Dieser Fluss hat dem Land seinen Namen gegeben: der Río Paraguay. Hier, im Herzen Südamerikas, besitzen zwei Prozent Reiche 80 Prozent des Bodens. Kaum Industrie, kaum Infrastruktur, und die Wirtschaft dümpelt vor sich hin. Wenn man mal absieht von einer kleinen Region im Nordosten des Landes, denn dies ist die Heimat der „Stevia Rebaudiana Bertoni“.
Alcadio Ayala: einer der Kleinfarmer, die auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind. Auf seinen 1,5 Hektar wächst überall diese Pflanze, die man schon von weitem riecht: ein fast nasenbetäubender Zuckergeruch, als ob man seine Nase in ein Süßstoff-Döschen hält. „Die Arbeit mit Stevia ist viel schwieriger als bei anderen Pflanzen, man muss genau wissen, was man tut. Aber mich stimuliert, dass der Preis bald vielleicht noch mehr steigt.“ Alcadios Frau Claudelina und Sohn Roberto - Kleines Päuschen bei 43 Grad am frühen Vormittag. Jeder hier kennt die unvorstellbare Kraft der Stevia. Die Ureinwohner benutzen sie seit Jahrhunderten, um ihren Matetee oder Tereré zu verfeinern.
Doch nun hat die Regierung Stevia zur Chefsache erklärt. Experten wie Oscar Sanchez haben Kleinfarmer wie Alcadio auf den Geschmack gebracht. Stevia wächst auch in anderen Ländern; aber hier, in ihrer heißen und feuchten Heimat, wächst sie am besten. Schon die Blätter sind 30 mal süßer als Zucker, und wenn man den eigentlichen Wirkstoff extrahiert, steigert sich die Süße auf das 300-fache. „Wir geben den Farmern technische Unterstützung von Anfang an“ erklärt Oscar Sanchez vom Landwirtschaftsministerium. „Wir erklären ihnen, wie sie den Boden bearbeiten, wie sie eigene Setzlinge züchten, wie sie pflanzen und schließlich: wie sie ernten.“
Die USA und die EU akzeptieren den Süßstoff noch nicht, gesundheitliche Nebenwirkungen sind noch nicht ausgeschlossen. Aber der massenweise und Jahrhunderte lange Konsum hat den Indios in Paraguay jedenfalls nicht geschadet. Drei Ernten pro Jahr, Alcadio bekommt für ein Kilo einen Dollar, zusammen 2500 Dollar jährlich. Sehr viel Geld in Paraguay! Die sonst so lethargische Regierung hat sich hier ausnahmsweise auf einen Zukunftsmarkt gestürzt. Im Nordosten – wie hier im Departamento San Pedro – entstehen überall Bauern-Kooperativen, Schulungszentren und neue Lagerhallen für das grüne Gold. „Im Augenblick bauen schon 80 Prozent aller Farmer in dieser Region Stevia an. Und Ende 2008, Anfang 2009 werden es 98 Prozent sein“, so Oscar Sanchez.
Der Stevia-Boom ist die absolute Ausnahme in Paraguay. Die gewaltigen Einkünfte aus zwei Wasserkraftwerken versandeten in den gierigen Händen der korrupten Oberschicht, jedenfalls bis zur Wahl des Reformpräsidenten und Ex-Bischofs Fernando Lugo am letzten Sonntag. Auf unserem Weg zum Stevia-Forschungsinstitut der Regierung durchqueren wir ein Land und seine Hauptstadt Asuncion. Nur die Wenigsten bekommen den Mindestlohn: 285 Dollar im Monat. Einige Tausend Bewohner der Hauptstadt leben im Müll. Eine feste Arbeit hat praktisch niemand, die meisten Geschäfte sind nicht angemeldet, und Armutskrankheiten raffen gerade jetzt wieder viele Menschen dahin, vor allem viele Kinder. Und das in Sichtweite des Regierungspalastes...
Eine Fahrstunde von Asunción entfernt wird an der nationalen Zukunft gearbeitet. In diesem Hightech-Institut befasst man sich fast ausschließlich mit Stevia. Vor allem eines macht den Forschern Sorgen: von hundert frischen Samen keimen höchstens fünfzehn. Das wollen die Biologen unbedingt in den Griff kriegen, denn die Wünsche der Regierung gehen nur in eine Richtung: Expansion! „Von Anfang an hatte unser Projekt ein Ziel: eine Anbaufläche von 5000 Hektar Stevia“ sagt Javier Casaccia, Koordinator der Steviaforschung. „Von dem Ertrag dieser Fläche könnten wir all unsere Auslandsschulden in nur einem Jahr zurückzahlen. Das ist unser Traum...“ Zukunftsmusik, aber die Nachfrage wächst enorm. Fans in Europa zum Beispiel bestellen sich ihren derzeit noch illegalen Zuckerersatz notfalls per Internet. Stevia hat keine Kalorien, ist natürlich, senkt den Zuckerspiegel im Blut und den Bluthochdruck.
Wasser auf die Mühlen von Alcadio. Gerade für Kleinbauern wie ihn eignet sich die Produktion der asternartigen Pflanze, denn ihre Kultivierung ist extrem arbeitsintensiv. Großgrundbesitzer können da nur passen. Mittagstisch im Schatten des bescheidenen Hauses. Home, sweet home, sozusagen. Wie entrückt isst der jüngere Sohn ein weiches Brötchen, willkommene Abwechslung zur landestypischen, fettigen „torta frita“ aus Mehl und Salz. In der Zeit vor der wundersamen Stevia war an solchen Luxus gar nicht zu denken. „Früher habe ich Maniok, Sesam und Baumwolle angepflanzt. Jetzt mit Stevia können wir schon besser essen, und Anschaffungen machen.“ Auf der Indiosprache Guaraní heißt Claudelinas ökonomische Wohltäterin: „Ka’a He’e“ – übersetzt ‚süßes Kraut’. Voller Stolz zeigt sie ihre neuesten Errungenschaften: Den Fernseher, die Waschmaschine und ... den Kühlschrank. „Den haben wir uns gerade von dem Stevia geleistet. Bis jetzt haben wir nur einen kleinen Teil abgezahlt, aber ich denke, wir werden die restlichen Raten auch noch schaffen“, erzählt die Stevia-Farmerin Claudelina Ayala.“
Im kleinen wie bei Claudelina und Alcadio, und im großen wie im Staate Paraguay: alle hoffen, ihre Schulden zu begleichen, mit einem zarten Pflänzchen namens Stevia. Ein Traum; nicht völlig unrealistisch, und in jedem Fall süßer als Zucker...
(Quelle: wdr/werg)